Paartherapie gleiche Zeit

Irrtümer in der Paarberatung: Wir müssen es gleichzeitig wollen

Wir MÜSSEN sterben, ansonsten müssen wir gar nichts. Mit unserer Partnerin, unserem Partner dürfen wir Dinge gleichzeitig wollen. Paare, auf die das zutrifft, machen dann möglicherweise die Erfahrung von Freude, Übereinstimmung und Verbundenheit. Sie können in einen Flow kommen – etwa so, wie kleine Kinder mit den besten Freund*innen große Abenteuer planen und vor Begeisterung sprühen.

 

Aber seien wir doch mal ehrlich – wie oft im Verlauf einer Begegnung stimmen wir schon punktgenau mit den Wünschen des anderen überein?!

Es scheint vieles gleichzeitig stattzufinden, wenn es „passt“ zwischen zwei Menschen. Die erste Begegnung, das erste tiefere Kennenlernen, der erste Kuss, der erste Sex – all dies hat in unserer romantisierten Retrospektive synchron stattgefunden.

 

Vermeintliche Synchronizität

Wenn wir Erfahrungsmomente von Gleichzeitigkeit wie einen Kaugummi auseinanderziehen und unter das Mikroskop legen, werden wir uns wundern. Viel komplexer ist die Struktur einer Erfahrungsspanne von beispielsweise 5 Sekunden aufgebaut. Alles Sinne sind beteiligt, einschließlich unserer gedanklichen Ebene. Darüber hinaus spielen die atmosphärischen Dichte im Raum (wie ist das Licht, die Akustik, welche Personen sind beteiligt), die Ausläufer vorangegangener Erfahrungen (komme ich aus dem Urlaub und bin seit Jahren zufriedener Single, bin ich gerade verlassen worden und suche Ablenkung, ist die Begegnung ein lange geplantes Date?) sowie Projektionen in die Zukunft (Was habe ich noch zu erledigen, bin ich gedanklich in ein berufliches Projekt eingebunden, steht der Gerichtsvollzieher an…?) eine Rolle.

Ja, vielleicht werden wir etwa im gleichen Moment aufeinander aufmerksam und es entsteht der Eindruck von „Liebe auf den ersten Blick“. Aber wodurch der jeweilige Blick motiviert ist, steht damit noch lange nicht fest.

Wir bewegen uns permanent im Feld der Wirkkräfte von Bindung und Autonomie. In diesem Gefüge kommt es zum ersten Date, zum ersten Kuss – aber auch zu dessen Ende und zu einem „Auf Wiedersehen“. Wir sind kontinuierliche Impulsgeber*innen – sowohl aktiv als auch passiv. Wir senden und empfangen Signale zugleich, wabern umher im Raum der unbegrenzten Möglichkeiten – und finden schließlich doch eine Übereinkunft, wenn wir uns gemeinsam für eine Partnerschaft entscheiden.

 

Wenn ein Paar im Verlauf der Zeit in eine Krise gerät, beginnt oft das Ringen um ein Wiederherstellen der vermeintlichen Gleichzeitigkeit, die es zu Beginn gegeben haben soll. Ob es um Sexualität geht, Erledigung von Pflichten oder anderes – das Nicht-Gleichzeitige, Asynchrone gibt dann immer häufiger Anlass zu Streit oder zunehmender Distanz.

Paare, die zu mir kommen, erleben diese Dynamik oft auch im Vorfeld der Beratung. Zwar sind in der Regel beide in irgendeiner Hinsicht unzufrieden oder in Not; aber es besteht nicht automatisch Eintracht darüber, ob an diesem Punkt eine externe Beratung hinzuzuziehen sei oder nicht.

 

Ähnlich wie bei der komplexen Annäherung am Anfang der Beziehung könnte ein Paar vor Aufnahme einer Paarberatung zu einem Konsens über die Ungleichzeitigkeit finden:

„Ich wünsche es mir. Ich bin bereit voranzugehen. Bitte begleite mich, und wir finden heraus, ob es uns unterstützen kann. Wenn das nicht der Fall ist, suchen wir nach einer anderen Option.“

 

„Ich bin skeptisch und lasse mich nicht festnageln. Ich bin aber bereit, dir zu folgen. Ich lasse mich in Offenheit ein und entscheide mich dann wieder neu.“

Wenn ein Paar sich zu dieser Unterschiedlichkeit bekennt und in meiner Praxis auftaucht, dann sitzt quasi ein Expertenteam im Führen und Folgen vor mir. Erfahrungsgemäß ist damit der Grundstein gelegt für ein lebendiges, vielfältiges und oft humorvolles Beratungsgeschehen.

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